„Ja seits ihr alle narrisch“, tönt es mir in tiefstem Bayerisch entgegen. Es ist auf den ersten Blick nicht auszumachen ob die ältere Dame die mich gerade ins Visier nimmt, es ernst meint oder einen Spaß mit mir machen will. Und sie setzt gleich noch mit den Worten „leg Di in den Biergarten, und lass die Buben laufen“, nach.
Etwas verlegen ringe ich um eine Antwort. Da fällt mir ein bayerischer Satz ein, den man für nahezu jeden Zweck verwenden kann. „Passt schon“, rufe ich lächelnd zurück. Ihre aufgebrachte Retoure verstehe ich Gott sei dank nicht richtig, aber in tiefster Seele muss ich ihr eigentlich recht geben.
Es ist mörderisch heiß und unerträglich schwül. Die Startzeit um 14.00 Uhr ist für diesen schweren Lauf ein wenig unglücklich gewählt.
Auch wenn zahlreiche Starter wegen der Hitze und dem angedrohten Gewitter wohl gekniffen haben, stehen noch weit über 300 Läuferinnen und Läufer erwartungsvoll auf dem Mittenwalder Marktplatz. Auf alle warten 1460 Höhenmeter, ungleich auf 11 km verteilt.
Die jungen Wilden nehmen es gelassen. Ihr Blick nach oben gilt ausschließlich dem Gipfelkreuz, Unter ihnen auch der sympathische Jonas Lehmann der ebenfalls aus dem Pfälzerwald kommt. Als Drittplazierter wird er später mit einer Zeit von etwas mehr als einer Stunde die Ziellinie in 2340 Meter ü.M. überlaufen.
Viel weiter hinten sowohl am Start wie auch im Ziel stehe ich mit meinen knapp 63 Lenzen.
Das Ziel vom „Hauptsache ankommen“ setze ich mir nicht mehr. Schließlich ist es ein Wettkampf und kein Wandertag. Illusionen mache ich mir trotzdem keine. Es wird wohl auch bei diesem Lauf ein Platz
ganz hinten geben.
Aber nun war es soweit. Startschuss! In Anbetracht der Schwüle hoffe ich innerlich auf einen verhaltenen Start. Aber die Meute ist erbarmungslos. Rechts und links von mir schießen Läuferinnen und Läufer wie die Wiesel vorbei. Sofort wird klar dass heute kein „Kanonenfutter“ im Läuferfeld ist.
Nach exakt zwei Kilometern wird es alpin. Viele Wanderer stehen applaudierend Spalier und keiner von uns traut sich hier in den Gehschritt überzugehen.
Der Veranstalter ist topp vorbereitet, und bietet den Aktiven an sieben Verpflegungsstellen Wasser und isotonische Getränke an. Kalt oder warm, völlig egal, man trinkt alles was einem gereicht wird.
Nur Schattenplätze hat man nicht im Angebot.
Langsam reagieren meine Beine auf das Wort „laufen“ nicht mehr. Gehen ist nun angesagt. Manchmal schneller, aber immer öfters langsamer. Trotzdem bin ich bei
Kilometer 6 noch perfekt in meiner Wunschzeit.
Noch ahne ich nicht, dass bald Abschnitte kommen werden, für die ich 30 Minuten für einen Kilometer benötige. Langsam erreicht meine kleine Gruppe die Baumgrenze und ich muss schmerzhaft feststellen, dass ich mit den Vorderen nicht mehr mithalten kann.
Wie angenehmer die Temperaturen in der Höhe werden, umso mehr habe ich mit der dünner werdenden Luft zu kämpfen.
In Serpentinen geht es steil ein nicht aufhörendes Geröllfeld hoch. Ich sinniere darüber nach wie jemand hier hoch rennen kann. Meine Schritte sind eher quälend und selbst das Wort „laufen“ wäre eine
maßlose Übertreibung.
Aber die Frage, was macht ein „alter Socken“ in dieser fremden Welt, stelle ich mir nicht. Wenn mir auch momentan so ziemlich alles schwer fällt, es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das mich immer weiter drängt.
Seit einiger Zeit verfolgen mich die Blicke der Bergwacht. Ganz oben am Berg haben sie sich platziert und lauern auf die Spätankömmlinge. „Komm ich zu spät?“, rufe
ich Ihnen entgegen.
Scheinbar mache ich aber noch einen soliden Eindruck, denn keiner fragt mich ernsthaft nach meinem Wohlbefinden.
Gerne würde ich den „Jungs“ einmal zeigen was eine richtige Bergziege ist, aber dafür ich bin einfach zu platt. Das Wetter hat sich meinem Befinden angepasst. Nebelschwaden überdecken meine Zielankunft.
Ich sehne mich nach dem gemütlichen Biergarten den mir die alte Dame am Start angepriesen hatte. Aber die rettende Seilbahn nach unten steckt irgendwo im Abendgewitter fest.
Jetzt wäre viel Zeit zum essen, trinken und nachdenken. Aber ich bin viel zu leer im Kopf und auch der Magen ist nicht in Feierlaune. Vor allem hüte ich mich über meine sportliche Zukunft nachzudenken. Zu oft war ich schon geistig zurückgetreten, und dann doch immer wieder irgendwo an einem Start erschienen.
Und noch etwas zieht mich immer wieder in die Berge. Wer einmal erfahren will, wie groß auch für die Schwächeren eine Wertschätzung noch sein kann, der sollte unbedingt mal einen Berglauf absolvieren.
Demut vor dem Berg und der Leistung Anderer ist hier eine absolute Selbstverständlichkeit.
Hans Pertsch Juli 2015
Der Karwendel-Berglauf in Mittenwald zählt nach Meinung vieler Athleten zu den letzten Abenteuern, die unsere hochtechnisierte Welt noch zu bieten hat.
Touristenbevölkerte Fußgängerzone, geteerte und später geschotterte Naturstraßen, einsame Bergpfade, robuste Geröllfelder und schließlich ein 440 m langer Tunnel erwartet die Sportler bevor sie das
Gipfelglück genießen können.