Wenn der Teddy plötzlich wieder beide Arme hat
Ich bin es wieder mal, Michael. Gerne erzähle ich Euch von Weihnachten in meiner Kinderzeit. Die bunten Kugeln leuchten und das Lametta glitzert an den Zweigen eines frisch geschlagenen Weihnachtsbaumes. In der Ferne hört man das zarte Läuten von Glocken und draußen vor der Haustüre rieselt leise der Schnee. Vater stimmt wie jedes Jahr lautstark „Oh, du fröhliche“ an, und alle Menschen liegen sich in den Armen und wünschen einander ein frohes Fest. Vielleicht eines der letzten Rituale das bei uns in Deutschland all die Krisen und Kriege, neue Technologien und sogar die Social-Media-Kanäle überlebt hat.
Fragt man daher ältere Leute, wie mich, was sich im Laufe der Jahre an Weihnachten geändert hat, wird man außer dem übermäßigen Geschenkewahn, nicht sehr viel Veränderungen feststellen können. Ein bisschen schade nur, dass vielen Kindern heute schon in ganz frühen Jahren der Glaube an Nikolaus und das Christkind genommen wird. Denn die Beiden hatten es über Generationen geschafft, in der Vorweihnachtszeit aus wilden Kindern, reinste Engel zu machen.
Meist sind es auch nur die ganz besonderen Feiertage die einem in Erinnerung bleiben. So wie zum Beispiel Weihnachten 1959. Wir wohnten in einem Mietshaus mit einem Lebensmittelgeschäft im Erdgeschoss. Unsere Wohnung lag im zweiten Stock. Es waren aber nicht nur gut zwei Dutzend Treppenstufen die uns trennten. Der Kaufmann war kein großer Kinderfreund, sodass junge Menschen bei ihm keine gern gesehenen Gäste waren. Sein böser Blick stillte alle meine Neugierde auf seine Weihnachtsauslage. Von den nahenden Weihnachten erhaschte ich daher nur vom Treppenhaus aus, einen Blick in die Geschäftsräume oder bekam akustisch mit, was die Kunden so für Weihnachtswünsche hatten. Nur den wunderbaren Geruch der Lebkuchen und des Weihnachtsgebäcks konnte der Ladenbesitzer nicht vor mir verbergen. Es roch himmlisch. Zuhause waren solche Empfindungen kein Thema. Denn Ende der 50er Jahre gab es innerhalb von Familien keinen, mit heute vergleichbaren, Informationsaustausch. Vor allem nicht mit Kindern, die gerade mal die ersten Buchstaben schreiben und lesen konnten. Denn immer wenn es spannend wurde, hieß es, „Erwachsenengespräch“, und man war außen vor. So erfuhr ich nur durch viel detektivischer Arbeit, dass die Geschäfte meines Vaters, momentan äußerst schlecht liefen, und man an einem Notfallplan arbeite, von dem ich möglichst nichts merken sollte.
Aber die Aussicht, auf ein Weihnachtsgeschenk verzichten zu müssen, war für mich ziemlich unbedeutend, da mein wirklicher Traum ohnehin nie in Erfüllung gehen würde. Denn mein Traum füllte zwei Schaufenster im größten Spielwarengeschäft der Stadt. Die dort aufgebaute Modelleisenbahn hatte alle Raffinessen, die die damalige Zeit zu bieten hatte. Auch wenn die Geräusche nicht nach außen drangen, die vollautomatisch startenden Züge, blinkende Ampeln, Seilbahnen, Wasserfälle und rauchende Dampfloks waren so faszinierend, dass ich die Dezemberkälte kaum spürte. Wahrscheinlich waren es Stunden, die ich vor dem Fenster verbrachte, bevor mich meine Mutter immer wieder zum Aufbruch drängte. Oft war es höchste Zeit den Heimweg anzutreten. Denn in der Weihnachtszeit war es schon beinahe normal, dass in den Abendstunden das Stromnetz wegen Überlastung zusammenbrach und alle Lichter in der Stadt ausgingen. Kerzen hinter den Fenstern von Wohnungen und das Licht der wenigen Autos die damals fuhren, geleiteten uns nach Hause. Wenn wir gut zu Fuß waren, schafften wir die Strecke in einer halben Stunde, Heute vielleicht unvorstellbar, aber meine Mutter ist den Weg so oft mit mir gegangen, wie ich es wollte. Sie hat mich wahrscheinlich ähnlich geliebt, wie ich meine Teddybären. Mit dem Unterschied, dass meine Lieblinge stark unter meiner Zuneigung litten. Abgerissene Ohren, fehlende Arme, Löcher an den Füßen und ziemlich zerschlissene Kleidung machten meine Bären nicht gerade salonfähig. Für sie war Weihnachten daher meist ein Glücksfall. Wohl mit großem Zeitaufwand, Stoff und Flickzeug hatte das Christkind mit Hilfe meiner Mutter aus wilden Tieren wieder zahme Bären gemacht. Zwei meiner Teddy´s erfreuen sich heute noch bester Gesundheit und von Zeit zu Zeit erwische ich mich dabei, dass ich ihnen beim vorbeigehen, für die tolle Freundschaft, dankend zuzwinkere. Es war ein schönes Weihnachtsfest damals, und über den Notfallplan und das ausgefallene Weihnachtsgeschenk, ist nie ein Wort gesprochen worden.
Ein paar Jahre später, wir waren umgezogen, und am neuen Ort war ich stolzer Spieler in der D-Jugend eines damals bedeutenden Vereines. Bei der Weihnachtsfeier einen Tag vor Heiligabend, bekam unsere komplette Mannschaft von einem Sponsor neue Fußballschuhe geschenkt. Aber das war nur der Anfang eines grandiosen Weihnachtsfestes. Denn unter dem Weihnachtsbaum lag ein echter Lederfußball. Es war ein weißer Fernsehball, mit schwarzen Ecken, so wie man ihn damals nur aus dem Fernsehen kannte. Ganz anders als die schweren Lederbälle, mit denen wir sonst spielen mussten. Ich war wie im siebten Himmel. Das ganze hatte aber nur einen großen Haken. Es war Heiligabend und an den nächsten beiden Tagen galt in unserer Familie ein traditionelles Ausgangsverbot. Besuche bei Verwanden und freundschaftliche Gegenbesuche beherrschten in meiner Kindheit die Weihnachtsfeiertage. Auch meine Mutter, die sonst meist Sonderregelungen für mich aushandeln konnte, war machtlos. So blieben dem Ball und den neuen Kickstiefeln zwei lange Tage der Einsatz auf dem gefrorenen Hartplatz erspart. Warum ich diese Weihnachtsgeschichte besonders gut in Erinnerung habe, ist ganz einfach erklärt. Viele Jahre später stand eine junge Dame vor mir, die unbedingt am Heiligen Abend in eine Pirmasenser Diskothek gehen wollte. Ob richtig oder falsch, es war eines der schwersten „Nein“, die ich je zu meiner Tochter gesagt hatte. So betrachtet, ist es auch an Weihnachten alles andere als einfach, für alle den gleichen Frieden zu finden.
Und egal ob sie in ein paar Tagen üppig beschenkt werden, oder sich mit weniger begnügen müssen. Oft sind es mehr die kleinen Aufmerksamkeiten, nette Gesten oder liebe Worte, die Menschen glücklich machen. An Weihnachten, und an allen anderen Tagen.
Michael wünscht Euch schöne Weihnachten