...so war’s im Pott
Weltweit erster Twin - Marathon der in Oberhausen und Dortmund parallel startet und in Essen gemeinsam endet.
Es war das glückliche Ende eines Marathontages als ich 2 Stunden vor Mitternacht wieder heimischen Boden unter meinen Füssen spürte. Aber mit dem Boden unter den Füssen war das tagsüber nicht immer ganz so zufriedenstellend.
Am frühen Sonntagmorgen lag über dem Ruhrgebiet eine Wetterfront die sich scheinbar zu keiner Seite entscheiden wollte. Spätestens beim Start war aber sichtbar, dass
der Wettergott ein Herz für Läufer hat. Angenehme kühle und trockene Bedingungen waren die idealen Voraussetzungen für den weltweit ersten Twin- Marathon der in Oberhausen und Dortmund parallel
losging.
Erst nach über 30 km wurden in Gelsenkirchen die beiden Strecken zur Zielankunft in Essen zusammengeführt.
Vielleicht hätte es eine Vorwarnung vor Leichtsinnigkeit für mich sein sollen, als ich kurz vor dem Start das Fehlen von Stirn und Armband bemerkte. Aber wer hört in euphorischen Stunden auf
irgendwelche Warnrufe.
Der Pott war in echter Volksfeststimmung als um Uhr 10.00 im weit von Dortmund
entferntem Vorort Bövinghausen der Startschuss fiel.
Auch hier beim Ruhrmarathon ging es am Anfang des Laufes sehr eng und träge zu. Viele Teilnehmer neigen einfach zur Untugend schnellere Läufer durch gemogelte falsche Zeitangaben bei der Anmeldung
schon auf den ersten Kilometern zu behindern. Die dadurch verloren gegangene Zeit ist auf den späteren Kilometern kaum noch aufzuholen.
Das ärgert natürlich besonderes die Läufer, die sich exakte Zeitpläne geschmiedet haben. So kommt es gerade auf den ersten 10 km immer wieder zu Rempeleien und auch lautstarken Auseinandersetzungen.
Auch ich habe mit diesem Schicksal leben müssen, und war nach den ersten 10 Kilometern bereits 5 Minuten hinter meinem Planziel
gelegen. Aber ich hatte an diesem Tage einen scheinbar körperlichen Hochtag erwischt.
Vorbei an den gigantischen Opelwerken ging die Strecke nach Bochum und Herne.
In diesen Städten säumten riesige Menschenmengen die Straßen. Alle Altersgruppen und Nationalitäten waren vertreten. Ganze Familienklans nahmen ihr Mittagsmahl auf der Straße ein, Oma und Opa
verfolgten das Geschehen aus der Festerfront ihrer alten Zechenhäuser.
Die Fahnen aller großen Fußballvereine des Potts waren gehisst. Ein seltenes Bild, Schalke in Eintracht mit dem BVB. Aber auch ehemalige Ruhrgebietgrößen wie Rotweiß Essen und Westfalia Herne fielen
mir am Wegesrande auf.
Beim Erreichen der Halbmarathonmarke nutzte noch mancher spontan die Gelegenheit, mit der Halbdistanz den Lauf zu beenden.
Ich fühlte aber noch eine Frische in mir, wie ich sie aus meinen bisherigen Läufen nicht kannte.
In der Euphorie dieses Wohlgefühles habe ich dabei den schlimmsten Fehler begangen den ein Ausdauersportler machen kann. Er kümmert sich nicht konsequent genug um die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme für die kommenden Kilometer. So hatte ich sogar bis KM 30 die verlorene Zeit wieder eingeholt und das Erreichen meines Wunschergebnisses war wieder greifbar nahe gerückt.
Aber es ist zumindest an diesem Tag ein Traum geblieben. Obwohl man beim Anblick des Ruhrgebietes nicht gerade von einer Berglandschaft sprechen
kann, hat es doch einige markige Anstiege, die um so schwerer fallen, wie später sie auf der Strecke liegen. So ist es manchen wohl vorgekommen, als ob das Ziel Essen irgendwo auf einem hohen Hügel
liegen müsste.
Der Kilometer 36 und meine Waden wurden keine Freunde. Aus einem leichten Ziehen entwickelte sich Meter für Meter ein größerer Schmerz. Es begannen für mich sehr
schmerzliche Restkilometer. Konnte ich mich die ersten Kilometer noch mit kaltem Wasser und Streckübungen am Straßenrand Richtung Ziel weiterschleppen waren die letzen 2000 m eine Höllenqual. Ich
muss einen so traurigen Eindruck auf viele Zuschauer gemacht haben, dass viele mich am liebsten ins Ziel getragen hätten.
Durch den Aufdruck des Vornamens auf der Startnummer wurde ich im Zielbereich aus vieler Munde noch einmal nach vorne gepeitscht. „Hans du schaffffts das!“
Als die Uhr nach Std. 4:20 endlich zum stehen kam, war ich einer der glücklichsten Menschen an der Strecke. Das bunte Treiben der vielen fröhlichen Zuschauer am Ziel
in Essen habe ich erst viel später registriert.
Zu sehr hatten die letzten Kilometer aus einem Traum beinahe einen Alptraum gemacht.
Ein Alptraum der auch am Ziel noch lange nicht enden sollte. Selbst das Ausziehen von Hose und Schuhe war aus eigener Kraft nicht mehr möglich.
Laufkollegen und Sanitäter haben danach in mühevoller Arbeit meine Muskeln wieder auseinander sortiert.
So hätte normalerweise die Geschichte geendet. Wenn da nicht die bohrende Frage nach dem „warum“ noch offen wäre.
War es nur leichtfertiger Umgang mit der notwendigen Zufuhr von Kohlehydraten und Mineralien während des Laufes?
Oder war es schlechte bzw. falsche Einteilung der Laufgeschwindigkeit?
War es die Strafe dafür vor dem Start schon vom glanzvollen Einlauf zu träumen?
Oder war es einfach nur Pech? Es wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben.
Da Mitleid und Häme sich unter den Laufkollegen, Trainer und Besserwissern die Waage hielten, bleibt eigentlich nur der alte Spruch „bereits im Ziel fängt der nächste Marathon an.“
Was nützen die besten Beine, wenn sie der Kopf nicht steuert.
18. April 2005 Hans Pertsch
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Wenn hier beim Lesen dieser Zeilen der Eindruck entstanden ist, „alles ist schiefgelaufen“, dann stimmt das nicht.
Heute, ein paar Tage später sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Im Zeitalter wo 1000/Sekunden oft über Sieg und Niederlage entscheiden habe ich im ersten Moment beinahe vergessen, dass ich
bei diesem Marathon meine eigene Bestzeit um 18 Minuten verbessert habe, und gegen über dem Berlin-Marathon sogar 27 Minuten schneller gelaufen bin.
Seit drei Tagen trainiere ich nun wieder. Gestern rief mir ein junger Passant zu „klasse, so fit wie du möchte ich auch mal sein.“ Dankbar lächelnd habe ich zurückgegrüßt. Es ist ein gutes Gefühl zu
wissen, dass man ernst genommen wird.
24. April 2005