(weit) wandern mit Michael

Eigentlich mochte Michael in seiner Kindheit alles außer intensives wandern. Berge waren für ihn wie ein Gefängnis. Aber so richtig hat das niemanden interessiert. Am wenigsten seinen Schwager Kurt.

Angefangen hatte alles mit einem lockeren Gespräch unter „fachkundigen“ Erwachsenen. Kinder waren maximal als Zuhörer erlaubt. Man sprach von einer angeblich kleinen Revolution, die damals Mitte der 1960er Jahre auf den Markt gekommen war. Gemeint waren Rucksäcke die beim Tragen keine Spuren der Gurte mehr hinterlassen sollten. Damit wären wohl auch Mehrtagestouren mit jüngeren Menschen möglich. Aber schon damals hätte man solcher Werbung nicht blind vertrauen sollen. Oder anders gesagt, die großen Versprechungen waren nicht für Jungs im Alter von 14 Jahren gedacht, die sich vollgepackt auf eine rund 300 Kilometer weite Wandertour zu Fuß aufmachen sollten.

Im Sommer 1966 war es dann trotzdem soweit. In 12 Tagesetappen ging es auf dem Westweg zu Fuß von Pforzheim bis nach Basel, einmal der Länge nach durch den ganzen Schwarzwald. Mit acht Personen sind wir losgezogen, vier der tapferen Wanderer waren aus der eigenen Familie. Ich war der Jüngste im Team. Alles für die Tour Notwendige befand sich im besagten Rucksack, der rund 10 Kilogramm schwer war. (wer das Tragen einmal selbst ausprobieren will, kann es auch mal mit einem vollen Kasten Bier versuchen. Hat etwa das gleiche Gewicht. ) Alles musste damals auf die Schulter, denn unterwegs gab es keinen Nachschub an Kleidern. Gerüstet war man für jedes Wetter, denn auch die Sommer in den früheren Jahren waren nicht viel anders als heute. Heiße Tage und gnadenlose Regenperioden waren die Wegbegleiter auf der langen Wandertour. Ein bisschen Notvorrat zum essen und ein Schlafsack für die Nacht vervollständigten den Inhalt. Ein Liter Wasser hatte man zusätzlich in einer Feldflasche am Gürtel befestigt. Nur für meinen geliebten Talisman blieb kein Platz mehr in meinem Rucksack.

Warum hatte ich mich nur freiwillig auf dieses Abenteuer eingelassen. Mein Schwager Kurt war damals Wanderführer bei den Naturfreunden und hatte für das besagte Jahr diesen grandiosen Entschluss gefasst. Widerreden waren ebenso sinnlos wie eine Mitsprache bei der Planung. Durch einige Vortouren wusste man zwar wie lange etwa eine Tagesetappe ist, aber jeden Tag aufs Neue unterwegs zu sein, war doch eine andere Hausnummer.

Während im Rest von Deutschland das WM Fieber tobte (Fußball WM in England) saß ich im Zug nach Pforzheim. Noch nicht einmal richtig am dortigen Bahnhof angekommen, hatte mein keines Transistorradio bereits den Geist aufgegeben. Alleine unter lauter Antifußballern war ich in stetigem Kampf, zumindest irgendwo unterwegs, Spielergebnisse zu erhaschen. Nur die 120 Minuten von Wembley waren mir live am Fernseher gegönnt. Wobei das kleine TV Gerät beim legendären dritten englischem Tor vor lauter Hektik im Lokal vom Klavier zu fallen drohte, und nur durch eine Notrettung den Schlusspfiff überlebte. Am liebsten wäre ich nach dem Spiel sofort in meine Wanderschuhe gestiegen und tief traurig in die Nacht hinausgelaufen. Inzwischen ist aus bitteren Pille von damals jedoch eine humorige Erinnerung geworden.

 

Das ist aber nicht das einzige was nach knapp 60 Jahren immer noch hellwach im Hinterkopf verblieben ist. Während meine Kumpels zuhause ihre Schulferien genossen, lief ich im strömenden Regen mit einem bodenlangen Anglerponcho endlose Serpentinen hoch, putze mir morgens mit eiskaltem Wasser am Brunnen die Zähne und konnte abends kein Wunschessen bestellen, sondern war mit allem zufrieden, was gerade auf den Tisch kam. Dinge die man meist erst später als wertvolle Erinnerungen erkennt.

Pertschfoto ... auch viele Jahre später ist der Rucksack immer noch saumäßig schwer

Irgendwann gehen auch außergewöhnliche Reisen einmal zu Ende. Langsam wurden die Berge flacher und der unverkennbare Geruch des Rheins erreichte die Nasenflügel. Fast zwei Wochen war man tagtäglich auf der Suche nach den Wegweisern mit der dunkelroten Route. Noch nicht einmal das Ziel erreicht, vermisste man sie bereits schmerzlich. Vergessen waren nicht nur die Blasen an den Füßen sondern auch die Schwielen die der Rucksack auf dem Rücken hinterlassen hatte. Auch die Nächte im acht Bett Zimmer waren im Nachhinein längst nicht mehr so stickig wie damals im Naturfreundehaus, ganz oben unterm Dach.

 

Man war fremden Menschen viel näher gekommen, wie es im normalen Alltag je denkbar gewesen wäre. Jeder freute sich auf zuhause, wohl wissend dass man dort zuerst in ein tiefes Loch fallen würde. Da GPS anno 1966 noch nicht einmal erfunden war, einigte man sich am Ende auf rund 300 Kilometer, eine Zahl die jeden der Mitläufer stolz machte. Für viele war man ein Verrückter, selbst fühlte man sich eher wie ein kleiner Held.

 

Hans Pertsch April 2025

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