82 Tage

exakt 82 Tage nach der Lungenembolie und etwa 600 teils gegangener Trainingskilometer werde ich am Rennsteig wieder am Start eines Laufes stehen.

 

Anstelle des geplanten 73 km Supermarathons werde ich mich aber ziemlich hinten im Feld des Halbmarathons im Thüringischen Oberhof einreihen.
Es ist weder verrückt noch ein Wunder, es ist einfach nur ein Signal ans Leben, dass Stillstand der Anfang vom Rückschritt ist.

Die Ummeldung auf den Supermarathon war eine vernünftige Entscheidung, ein totaler Verzicht hätten meine Selbstzweifel ins Uferlose getrieben.

In welcher Zeit ich den Halbmarathon laufen werde ist mir trotzdem nicht ganz egal. Ein Rennen ist kein Spaziergang und ohne Jagdinstinkt gibt es keinen Nervenkitzel. Und der gehört einfach dazu.
Aber das Leben ist kein Spiel. Auch wenn ich es nicht gerne laut sage, „ich habe enorm viel Glück gehabt“. Nicht nur mit dem Ausgang meiner Erkrankung, sondern auch mit der weiteren Verarbeitung des Ganzen.

 

Warum gerade ich? Schicksalsschläge, ob große oder kleine, gönnt man eher seinem Nachbarn, Bekannten oder sogar seinen Freunden, als dass man sie für sich selber annimmt.
Angst, Zorn und Ratlosigkeit blenden in den ersten Momenten jegliche Vernunft aus.
Plötzlich von jetzt auf nachher platzen alle Zukunftspläne wie Seifenblasen weg. Panikattacken durchschießen den Körper und hemmen alle Denkprozesse.
Auch die erhoffte Hilfe von außen ist alles andere als befriedigend. Den Angehörigen sieht man an, dass sie eigentlich selbst Hilfe benötigen würden, beim Krankenhauspersonal spürt man trotz aller Freundlichkeit, dass man nur einer von vielen Sorgenkindern ist.

 

Ja, warum gerade ich? Ganz einfach, weil man wie alle Anderen nur ein kleines Rädchen im großen System ist. Möge das Durchschnittsalter der Menschen auch immer weiter steigen und modernste Medizin uns viele Jahre jung halten, es gibt keine Garantie, am Ende zu diesen Auserwählten zu gehören.
Und nun? Das Leben geht ja schließlich weiter. Glas halb voll oder Glas halb leer.
Nach meinem Schicksalsschlag der mich mitten aus allen Marathonträumen gerissen hat, sind viele dieser dunklen Wolken über mich hinweggezogen.


Viele haben sich inzwischen wieder aufgehellt, manche sind geblieben. Mein Gott, wie groß war damals die Liste meiner noch nicht abgearbeiteten und nicht ausgesprochener Dinge des Lebens. Zwar habe ich mit der Abarbeitung immer noch nicht begonnen, aber ich habe auch keine neuen Einträge mehr zugelassen.

Langsam überwiegen wieder die Zukunftspläne den bösen Erinnerungen.

 

Nicht mehr jedes Zucken im Körper erzeugt Angstgefühle. Und auch die meisten Nächte gehören wieder dem Schlaf. Die Bremsfallschirme sind gelockert und aus Hügeln könnten wieder Berge werden. Schauen wir mal wohin der Weg führt.

Inzwischen ist man auch der Ursache meiner Embolien nähergekommen. Eine lapidare Mitgift meiner Erzeuger schlummert in meinem Körper und lässt mein Blut scheinbar zum falschen Zeitpunkt gerinnen.

Damit bin ich Marathon mäßig in bester Gesellschaft. Den Schweizer Marathon Europameister Viktor Röhtlin ereilte 2009 das gleiche Schicksal. Auch bei ihm diagnostizierte man eine erbliche Blutgerinnungsstörung. Heilungschancen gibt es keine.

Ein relativer Schutz bieten nur Medikamente die die Blutgerinnung steuern. Ob sie auch im richtigen Moment wirken, ist Wunsch und Hoffnung zugleich.

Das Leben bietet keine Garantien.

 

Mai 2015

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© Hans Pertsch