Die Tage vor dem Lauf
Ich habe ein bisschen in der Statistik der letzten Monate gewühlt und war über die dort entstandenen Zahlenwerke ziemlich überrascht. Seit 13.April war ich ca.90 Stunden
auf der Straße, habe ca 850 km abgespult und dabei ca. 18.000 Höhenmeter überwunden.
Etwa 75 Mal habe ich die Waschküche damit durcheinander gebracht, sodass ich wohl bald einen eigene Waschmaschine bekomme, mindestens zwei Dutzend Mal die hauseigene
medizinische Abteilung für meine maladen Beine missbraucht und gut 10 Mal meine schlechte Laune wegen Trainings-Unzufriedenheit an meiner
Familie ausgelassen.
Ein Traum geht in Erfüllung
Hand aufs Herz, wer träumt nicht davon, einmal bei einer Weltmeisterschaft live dabei zu sein. Nein, nicht etwa als Zuschauer, sondern als aktiver Teilnehmer.
Vor neun Monaten hatte ich mich darum beworben bei der Langdistanz Berglauf Weltmeisterschaft 2007 in der Schweiz mitlaufen zu dürfen. Mit viel Herzklopfen öffnete ich Anfang April das
Antwortschreiben des Organisationskomitees.
Teilnehmer 4494 Hans Pertsch Germany
Dabei ist es gerade einmal vier Jahre her, in denen ich mich mit dem eigenen Laufen beschäftige. Und obwohl ich nie auf vorderen Plätzen oder Siegertreppchen landen werde, reise ich seither rastlos zu immer höher gesteckten Laufzielen.
Und nun hat es mich nach Interlaken im Berner Oberland verschlagen. Der Flair dieser schönen Stadt ist einzigartig. Strahlend blauer Himmel und dazu eine wie frisch
gezuckert wirkende Jungfrau machten die Traumlandlandschaft perfekt. Nachmittagstemperaturen von nahezu 20° ließen noch einmal Sommerstimmung aufkommen.
Ein ausgelesenes Teilnehmerfeld aus 48 Nationen, eine ausgezeichnete Organisation und ein begeistertes Publikum an der Straße ließen erkennen, wie Schweizer Perfektion aussieht. Trotz all dieser
Hochstimmung war ich am Start so ruhig wie noch nie bei einem Marathonlauf.
Abgebrüht, selbstsicher oder einfach nur gut drauf, keine Ahnung.
Nahezu fehlerlos liefen die letzten Vorbereitungen, ein undramatischer Abschied von meiner Frau, und schon stand ich mitten unter 4500 Gleichgesinnten in ziemlich vorderer Reihe am Start. Nicht dass
ich mich vorgedrängt hätte, nein die Wege nach hinten waren einfach zugestellt.
Der Lauf
Der Startplatz weit vorne hat nicht nur Vorteile. Das Gedränge und Geschubse um die Ideallinie ist gewaltig. Als ich nach einigen Minuten dann langsam zu meiner
Geschwindigkeitsgruppe durchgereicht wurde, fühlte ich mich gleich viel wohler.
Ich hatte einen prächtigen Lauftag erwischt. Es lief alles wie geschmiert, und die ersten Kilometerschilder flogen gerade so an mir vorbei. Die 10km Zwischenzeit von 53
Minuten ließen sofort die Alarmglocken läuten. Viel zu schnell war ich unterwegs.
Der nächste Steckenabschnitt bis zur Halbmarathonmarke war landschaftlich sehr schön. Ein paar Anstiege und kleine Fotopausen ließen meinen Zeitvorsprung schmelzen.
Den ersten Kontrollpunkt des Tages bei 19,6 KM erreichte ich eine halbe Stunde vor der dort vorgesehenen Höchstzeit. ( Bis zum letzten Kontrollpunkt bei KM 38 konnte
ich diesen 30 Minuten Vorsprung exakt einhalten)
Eine lang gezogene Runde durch den wundeschönen Ort Lauterbrunnen beendete bei KM 25 den gemütlichen Samstagsausflug.
Von jetzt auf nachher standen wir mitten im Berglauf. Hatten wir Läufer auf der bisherigen Strecke 300 Höhenmeter überwunden, standen für den Rest noch einmal über
1500 Höhenmeter auf dem Programm.
Direkt am Einstieg in den Berg haben Einheimische einen privatenVerpflegungs- stand aufgebaut.
Mitleidvoll wollen sie mir eine deftige Verpflegung für die kommenden Kilometer mitgeben. Da ich mich noch sehr fit fühle, verneine ich freundlich und nahm nur einen Schluck Wasser.
In einer Dreiergruppe bestehend aus einem Italiener, einer Japanerin und mir, nehmen wir die ersten Meter des Berges. Der flotte Italiener hat die beste Luft und sein Abstand zu uns wird immer
größer. Während die zierliche Japanerin mit lauten Hilferufen versucht den Berg zu bewältigen, muss ich zum ersten Mal an diesem Tag in den Gehschritt übergehen. Auf den kommenden fünf Kilometern
sind
etwa 500 Höhenmeter zu überwinden.
Als plötzlich aus einem Wald Schüsse zu hören sind, bemerkt ein schweizer Läufer trocken „die ersetzen bei uns den Besenwagen.“ Obwohl ich trotz dieser Warnung bis auf wenige Ausnahmen nur gehen
konnte, blieb ich exakt im Plan.
Wie bereits in Lauterbrunnen werden die Läufer auch in Wengen mit riesigem Applaus empfangen. Mittendrin natürlich meine Frau Gabi. Wie in Profimanier tauschen wir hier zum letzten Mal die Wasserflaschen. Nach ein paar gutgemeinten und mahnenden Worten laufe ich trotzdem wie gehetzt weiter.
Immer noch halte ich meinen Zeitpolster von 30 Minuten. Die nächsten acht Kilometer sind zwar landschaftlich schön, aber steckenmäßig relativ langweilig. Es fehlen zwar die enormen Steigungen, aber es geht noch einmal 500 Höhenmeter aufwärts. An einer Sanitätsstation, von der es auf der gesamten Strecke sehr viele gibt, treffe ich meinen Italiener wieder. „Amigo, was ist los ?“ begrüße ich ihn beim vorbeilaufen. „Alles Kaputto“ winkt er resignierend ab.
Inzwischen werden alle 250 Meter die gelaufenen Kilometer angezeigt. Was vielleicht gut gemeint ist, zermürbt mich zusehend, weil das Ende einfach nicht näher kommen
will.
Bei Kilometer 38 zeigt der Blick auf meine Uhr 5:02 Stunden an. Nur ganze zwei Minuten habe ich meine Planzeit überschritten. Eine Endzeit von unter 6:Stunden schwirrt durch meinen Kopf und ich werde
noch einmal hell wach.
Irgendwo auf den nächsten Metern überholt mich die 6 Stunden Pasemakerin . Auf meine Frage ob sie rechtzeitig ankomme, wollte sie sich nicht genau festlegen. „Wir kommen
gleich in einen Stau“ rief sie mir zu. „Blöde Antwort“ dachte ich, und wurde gleich nach kurzer Zeit eines Besseren belehrt.
Ca.100 bis 150 Läufer warteten vor dem letzten großen Anstieg. Nur mühsam kletterten Läufer um Läufer ein kurzes Steilstück nach oben. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber ich schätze einen Zeitverlust von ca. 10 – 15 Minuten.
Aber das alleine hat meinen Zeitplan für die letzten Kilometer nicht durcheinander gebracht. Aus geplanten 45 Minuten wurden knapp 80 Minuten. Keine Krämpfe, keine Luft oder Magenprobleme machten mir zu schaffen, es war einfach nur die Kraft die mich zusehend verließ. Auf dem schmalen Grad der berühmten Mondäne wurde nicht mehr um Plätze gerungen, hier ging es nur noch ums ankommen.
Der berühmte Dudelsackspieler am Ende der letzten Steigung läutete das Ende
der Tortour ein. Nun geht es noch ein Kilometer bergab zum Ziel auf der Kleinen Scheideck. Wer jetzt noch kann, der läuft wie um sein Leben. Ich kann es nicht mehr. Die langen Aufstiege haben meine
Knie so weich wie Butter gemacht. Gemächlich muss ich Anfangs dem Ziel entgegenlaufen.
Erst im flacheren Stück kann ich wieder Gas geben. Dann aber richtig. Ein Zieldurchlauf wie im Bilderbuch beendet für mich den Jungfrau Marathon nach 6:24 Minuten.
Am Ende
Trotz aller Anstrengungen fühle ich mich im Ziel besser und frischer wie bei allen vorherigen Marathonläufen. Hellwach bekomme ich mit wie sich Läufer gegenseitig um den
Hals fallen.
Wildfremde Menschen gratulieren und beglückwünschen selbst die letzten ankommenden Läufer noch frenetisch. Mittendrin auch meine kleine Japanerin. Auch wir jubeln wie kleine Kinder. Sprachlich können
wir uns jedoch nicht verständigen wer zu erst ins Ziel gekommen war. Auch egal.
Wurde auf der Strecke nicht immer ganz kameradschaftlich miteinander umgegangen, hier war man plötzlich wieder eine große Familie.
Es war ein großer Tag für mich den ich wohl nie vergessen werde.
Aber auf den letzten Kilometern habe ich erkennen müssen (dürfen), dass es auch Grenzen gibt. Ich habe gespürt, dass es 5 vor 12 war. Noch nie musste ich mich körperlich
derartig quälen. Heute habe ich meine Grenzen noch nicht überschreiten müssen, dank eines guten Tages, den es aber leider nicht immer gibt.
Man sollte Respekt vor den Mächten des Körpers und der Natur haben.
Daher lasse ich auch heute bewusst offen, ob und welches Abenteuer 2008 auf meinem Plan stehen wird.
Hans Pertsch 9.September 2007