Michael und der Rest der Familie

Michael (40), Angelika(36) und Tobias (10) waren eine ganz normale Durchschnittsfamilie. Bis sie im September letzten Jahres eine Reise nach Berlin unternommen hatten. Eigentlich wollten sie sich in der Deutschen Hauptstadt nur ein Musical anschauen. Aber es kam alles ganz anders. Als das Trio am Sonntagmorgen ihr Hotel verließ, standen sie plötzlich mitten in einer riesigen Menschenmenge. Zwar hatten sie sich am Vortag gewundert, dass überall Halteverbotsschilder stehen, aber den Berlin Marathon hatten sie nicht auf dem Bildschirm. Während Frau und Kind zum weitergehen drängten, stand Michael wie gebannt am Straßenrand. So nah war er noch nie an einer Sportveranstaltung dran. Und es sind nicht die Spitzenläufer die ihn faszinierten, nein es waren Typen so wie er, die sich an diesem Sonntagmorgen durch die Berliner Straßen quälten. Obwohl manche von völlig kaputt schienen, lächelten sie über das ganze Gesicht. Michael war sicher, dass der von ihm soeben gefasste Entschluss seiner Familie, ganz und gar nicht gefallen würde. „In einem Jahr sind wir wieder hier und ich laufe den Marathon“, will er noch heute seiner Familie verkünden.

Pertschfoto Berlin

Aber Angelika reagiert ganz anders als erwartet. Mit einem kurzen Blick auf Michaels Rundungen sagte sie trocken „keine schlechte Idee“. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie aber noch nicht, wie sehr sie im kommenden Jahr mitleiden, mitdenken und mittragen müsse. Auch wenn Michael in den Folgetagen das Internet noch so glühen lässt, muss er bald feststellen, dass Theorie nicht weiterhilft und die einzige Wahrheit draußen auf der Straße liegt. Aus gemeinsamen Abenden wurden einsame Laufabende und aus Familiensonntagen wurden bald Laufsonntage. Argwöhnisch verfolgt auch Tobias das Wirken seines Vaters. Er findet es uncool was der Papa so in seiner Freizeit treibt. Aber am meisten stört ihn der neue Speiseplan in Muttis Küche. Über das viele Grünzeug, das nun die Regie auf dem Tisch übernommen hat, protestiert er bei jeder Gelegenheit. Auch Angelika ist nicht die glücklichste Frau. Lass Michael vor wenigen Wochen seiner Frau noch jeden Wunsch von den Augen ab, geht jetzt sein Blick meistens nur noch auf die Stoppuhr. „Mach ich später“, wird immer mehr zu seinem Lieblingssatz.

Und Michael? Ihn hat die Realität längst eingeholt. Trotz eigenem Trainingsplan und Tipps von tausend neuen Freunden, kommt er nicht richtig weiter. Obwohl er inzwischen bereits einen Halbmarathon laufen könnte, will sein Körper nicht mehr alle Schikanen mitzumachen. Die eingelegte Zwangspause bringt den Familienfrieden aber nicht zurück. Einen schon länger geplanten Kurzurlaub will Angelika nur mitmachen wenn die Laufschuhe zuhause bleiben. Ein Unding für Michael, muss er doch dringend den Trainingsrückstand wieder aufholen.

Aber das Läuferleben hat auch seine schönen Seiten. Gestern kam Tobias freudestrahlend aus der Schule. Der Sportlehrer hatte seinen Papa für seine Aktivitäten vor der ganzen Klasse gelobt. Und auch Angelika ist nicht untätig geblieben. Sie soll neulich in neuen Sportschuhen im Wald joggend gesehen worden sein.

pertschfoto letztes Training im Wald

Nach einem Arztbesuch ist Michael verwirrt. Zu seiner Verwunderung hat sein Lieblingsdoktor keine Freudensprünge gemacht, als er ihm vom Berlin Marathon erzählte. Negative Meinungen die auch manche seiner Freunde teilen. Dafür fragt inzwischen keiner in der Familie mehr wie lang ein Marathon eigentlich ist. Alle sind im Laufe der letzten Monate ein Teil von Papas Marathonprojekt geworden. Letzte Woche ist Michael zum ersten mal 35 Kilometer am Stück gelaufen. Trotzdem traut er dem Braten immer noch nicht. Hatte seine Familie anfangs eher an seiner Läuferkarriere gezweifelt, ist sie jetzt, wo es bald auf die Berliner Straßen geht, sein größter Fan und Rückhalt.

Es gibt Momente im Leben, in denen einem niemand mehr helfen kann. Man ist ganz alleine, und hat Glück oder Pech in den eigenen Händen, bzw. Michael in seinen Beinen. Und er wird das beste draus machen, schließlich stehen Angelika und Tobias draußen und feuern ihren neuen Helden an.

Euer Michael, einst im September

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© Hans Pertsch